Das Nordbahnhofviertel hat die Eisenbahn in der Vergangenheit wie kaum einen anderen Stadtteil geprägt. Das ganze Viertel ist dabei von der Gäubahn-Strecke (Panoramabahn) im Nordwesten, dem Nordbahnhof am Rosensteinpark und dem Bahnbetriebswerk im Süden eingerahmt.
Für ihre Beamten und Arbeiter ließ die Eisenbahn hier Werkswohnungen errichten, das sogenannte „Eisenbahnerdörfle“. Zwischen 1894 und 1930 wuchsen zwischen der Nordbahnhof- und der Rosensteinstraße geschmackvolle Wohnblöcke aus Backsteinen empor. Die Kleinwohnungen waren für ihre Zeit solide und boten Wohnraum zu angemessenen Mieten. Um 1914 wohnten bereits rund 4.000 Eisenbahner mit ihren Familien im „Dörfle“.
Das Gesicht des Viertels änderte sich ab den 1960er langsam: Die Häuser waren renovierungsbedürftig, wegen des günstigen Wohnraums zogen viele Migranten in das Viertel. Es kam teilweise zu Spannungen. Mit Sozialarbeit und Sanierung versuchte die Stadt gegenzusteuern – mit einigen Erfolgen: Das Lebensgefühl im Viertel hat sich wieder verbessert.
Unter der mächtigen Eisenbahnbrücke an der Rosensteinstraße kauern drei kleine Häuser. Sie wurden nach 1920 von Eisenbahnern gebaut, die den freien Platz unter den Rundbögen sinnvoll nutzen wollten. Das Ergebnis waren Gebäude, die so einzigartig wie nachhaltig sind. Und wer kann schon sagen, dass sein Haus einen doppelten Bahnanschluss mit Eisenbahn über dem Dach und der Straßenbahn daneben hat?
Noch um 1900 war es für Arbeiterfamilien nicht unüblich, Obst und Gemüse für den Eigenbedarf in Gärten um ihre Wohnungen herum anzubauen. Selbst Nutztiere wie Kaninchen und Hühner hielten sich einige. Viele Menschen waren zum Arbeiten vom Land in die Städte gekommen und kannten es nicht anders; auch konnte so Geld gespart werden.
Es verwundert nicht, dass entlang der Stuttgarter Bahnstrecken zahllose Schrebergärten verpachtet wurden. Diese „Eisenbahnerstückle“ waren Nutzgärten, aber auch Orte der Erholung und der gemeinsamen Freizeit. Leider lassen die zahlreichen Baustellen der Eisenbahn diese besonderen Schrebergärten immer weiter verschwinden. Wolfgang Frey baute einige Schrebergärten am Nordbahnhof liebevoll und detailreich im Modell nach und setzte ihnen und ihren Nutzern ein Denkmal.
Der Bau des „Eisenbahndörfles“ und des benachbarten Bahnbetriebswerk „Auf der Prag“ brachte Leben in das zuvor nur wenig genutzte Gebiet. Nach einem Güterbahnhof eröffnete die Bahn 1896 den Nordbahnhof, der zunächst wegen der naheliegenden Anhöhe „Bahnhof Prag“ hieß (Verwechslungen mit der tschechischen Hauptstadt führten schnell zur Umbenennung).
Vom Nordbahnhof aus konnten Züge zum einen auf der „Gäubahn“-Strecke über Stuttgart-West Richtung Horb fahren. Zum anderen bot der bereits 1846 fertiggestellte Pragtunnel eine Verbindung nach Feuerbach – und weiter Richtung Heilbronn. Hier befand sich ab 1894 außerdem die Lokomotiv-Remise (Lokschuppen) „Auf der Prag“, das nach dem Zweiten Weltkrieg als Ausbesserungswerk betrieben wurde. Mittlerweile sind die sogenannten „Wagenhallen“ als alternatives Kultur- und Eventzentrum bekannt geworden.
Auf Wolfgang Freys Anlage sind lediglich die Stadtbahnhaltestelle „Nordbahnhof“ und die Eisenbahnbrücken darüber zu sehen. Hat er etwa in eine Zukunft geschaut, in der der Bahnhof wegen des Bahnhofsprojekts „Stuttgart 21“ verschwindet? Sicher ist, dass hier weiterhin S-Bahnen halten sollen. Doch ob beispielsweise die „Gäubahn“-Strecke zukünftig angeschlossen bleiben wird, ist noch nicht endgültig entschieden.
Literatur & Links
Max Dreher/David Weber: Das Eisenbahnerdörfle. Wie entwickelt sich eine von der Stadt isolierte Arbeitersiedlung? [Seminararbeit, entstanden im Rahmen des Seminars „Heimatkunde I Wohnen“ (Prof. Dr. habil. Christine Hannemann), Univ. Stuttgart, WiSe 2012/13]
Jörg Kurz: Nordgeschichte(n) vom Wohnen und Leben der Menschen im Stuttgarter Norden, Stuttgart 2005
Andreas M. Räntzsch: Stuttgart und seine Eisenbahn. Entwicklung des Eisenbahnwesens im Raum Stuttgart, Heidenheim 1987, S. 175-179 [Kapitel: Lokomotivbahnhof auf der Prag]
Werner Skrentny u.a. (Hgg.): Stuttgart zu Fuß. 20 Stadtteil-Streifzüge durch Geschichte und Gegenwart, Tübingen 2011, 5. Aufl., S. 393-400